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Das andere Amerika

Erstellt bei Pat und George in Los Osos, USA am 2. September 2003

Eigentlich hatte ich keine große Lust auf Amerika, aber ich vertraute darauf, daß uns, wie Markus recherchiert hatte, der Wind helfen würde, schnell nach Süden durch zu radeln. Ich bin vorher noch nie in den Staaten gewesen und das, was ich aus den Medien kannte, stieß mich zutiefst ab. Umso erstaunter war ich, daß es angefangen von den Anti-Bush- und Anti-Kriegs-Protesten in Seattle immer liberaler, freakiger und freundlicher wurde. Kurz hinter der Grenze zu Californien begannen uns die "Kinder der Hippies" zu begeistern - die Siebziger sind nicht tot! Und auch die älteren Semester mischen immer noch kräftig mit. Wir bekamen in den sechs Monaten in den USA ein ganz anderes Bild von den Menschen hier als das, das die Medien von ihnen verbreiten. Seht selbst!

Der Wochenmarkt am Samstag in Arcata mit Live-Musik, Tanz und vielen weiteren spontanen Aktionen ist so ein ausgelassenes Fest, das hielten wir erst für eine einmalige Aktion. "Nein, nein," beteuerte Jill uns, "das ist hier im Sommer jeden Samstag so!" Auf der großen Wiese der Arcata-Plaza wurde jongliert, jemand verteilte Hula-Hoop-Reifen zum Spielen, ein älteres Hippiepärchen verschenkte Sonnenblumen, es wurde gepicknickt und geplaudert, eine tolle Atmosphäre! Die Marktstände rundum boten feinstes örtlich produziertes Ökogemüse und -obst, das war ein Fest für die Sinne. (mi)

Nicht nur in Arcata, sondern auch in vielen weiteren Ortschaften, die wir auf unserem Weg Richtung San Francisco durchfuhren, gehörten die bunten Kennzeichen der Hippies und Ökis mit zum Straßenbild: Bioläden, Biobäcker, Perlen- und Schmuckläden, Esoterikläden, bunte Cafes, alternative Buchläden und so weiter. Peacezeichen, Regenbögen, Reggaefarben und Batikstoffe kündigten schon von ferne an, wer hier zuhause ist. Das Photo deutet auf den Perlenladen hin, in dem ich einen meiner Perlenringe für 10 Cent reparieren konnte (Ersatzperlen und Kleber inklusive). Und das ist kein kleiner Shop, sondern ein Unternehmen mit weltweitem Versand!
LINK zum Versand: gardenofbeadin.com (mi)

Wenn man die Haight-Street in San Francisco hinuntergeht, sind die 70er Jahre so nah und greifbar, als wäre es erst wenige Jahre her, daß hier die Hippies aus aller Welt die Stadt bevölkerten. Auch wenn inzwischen das Viertel von der Yuppie-Szene und den Touristen entdeckt wurde und die Mieten in astronomische Höhen stiegen, so ist mit etwas Phantasie doch noch ganz viel von dem alten Flair zu erahnen. Wir bummelten durch die zahlreichen Second-Handläden und hörten Life-Musik in einer gemütlichen Kneipe. Trotz des vielkritisierten Kommerz war es für uns eine tolle Zeit in San Francisco. (mi)

Seit wir in Arcata den größten Bio-Supermarkt unseres Lebens gesehen hatten, kundschafteten wir in jedem Ort immer erst den Bioladen aus. Für unsere Arbeit auf dem SolFest wurden wir fünf Tage lang mit dem feinstem vegetarischen Essen verköstigt. Und wo immer wir hinkamen, bekamen wir Obst und Gemüse aus dem eigenen Garten geschenkt. Wir haben uns in unserem Leben noch nie mit so viel Freunde so gesund ernährt wie hier an der Westküste der USA! (mi)
LINK zum Solar Living Center in Hopland: www.solarliving.org/index.cfm (mi)

Dies war unser absoluter Lieblingsort auf dem SolFest. Nachdem wir drei Tage lang schwer gerackert hatten, konnten wir hier zwischen den Kissen im Schatten gleich gegenüber der Hauptbühne prima entspannen. Doch am schönsten war es hier bei Kerzenschein in der Nacht: mit Trommeln, Gitarren, einer Flöte und Gesang wurde mutig improvisiert, die Weinflasche machte ihre Runde und ein süßlicher Duft zog durchs ganze Zelt. (mi)

Die Westküste besitzt eine reiche, vielfältige Kunstszene, genau das Richtige für mich. Mendocino, die Künstlerstadt war für Markus und mich Liebe auf den ersten Blick. Doch weit und breit war keine günstige Unterkunft in Sicht. Wir waren schon kurz davor resigniert weiter zu radeln, da hielt Lucia (mitte) mit ihrem Auto und fragte, ob sie uns helfen könne. Sie führte damit die Tradition ihres Vater fort, der früher öfters spontan Gäste mit nach Hause brachte. Dank Lucia konnten wir die Kunstszene etwas näher kennen lernen. Wir bestaunten die Bilder ihres verstorbenen Vaters, besichtigten das Kunstzentrum, das er gegründet hatte, bummelten durch Galerien auf der Main Street und besuchten ihre über 90-jährige Mutter Jenny (rechts), die früher als Modedesignerin arbeitete und jetzt zusammen mit der Weberin Vicki (links) in einer Wohnung voller Bilder verschiedenster Künstler lebt. (mi)

Vicki arbeitet an einem großen Teppich-Projekt, in den sie über mehrere Jahre aktuelle Ereignisse, Eindrücke und die charakteristischen Eigenschaften der Region einwebt. Auch der Irakkrieg ist mit dunklen Farben vertreten. Die hellen, flauschigen Fäden in der Mitte stammen übrigens von Vickis buschigem Hasen April (siehe oben). Der Webstuhl ist so groß, das er ein ganzes Zimmer füllt.
"The California Rug Project" (mi)

Im Land des unbegrenzten Kapitalismus stießen wir auch auf einige sehr engagierte Unternehmen, die sich für eine bessere Welt und gesunde Lebensweise einsetzen. So lernten wir z.B. die Bio-Supermarkt- Kette TRADER JOE kennen, die so ein reichhaltiges und häufig auch preisgünstiges Angebot haben, daß einem die Spucke wegbleibt. Wir haben auch viele COOPs besucht, eine Ladenform, in der in erster Linie lokale Produkte zu Preisen verkauft werden, die nur die Kosten des Ladens decken und nicht Profit erwirtschaften. Der Riesen-Bioladen in Arcata ist einer davon. Als wir allerdings die Bio-Produkte des Schauspielers Paul Newman sahen, mußten wir doch erstmal lachen. Doch man höre und staune: den gesamten Gewinn seiner verkauften Produkte spendet er wohltätigen Zwecken.
LINK zu seiner Homepage: www.newmansown.com (mi)

Bereits in Oregon haben wir von Kay und Frank erfahren, daß einige der Ortschaften an der Westküste ganz bewußt und mit großem Einsatz die Ansiedlung von Mc Donald´s, WalMart und Co verhindern, um nicht auch Teil des "Cookicut-Amerikas" (alle Orte sehen gleich aus wie mit einer Plätzchenform ausgestochen) zu werden. Ein Ort kurz vor San Franzisko ist mit seinen Maßnahmen gegen die Entdeckung durch Investoren und Touristen sehr radikal und erfolgreich vorgegangen. Die Gemeinschaft der Einwohner kaufte gezielt Grundstücke und Gebäude auf, um Straßen- und Siedlungsausbau zu vermeiden sowie soziale Einrichtungen aus der Hippiezeit zu erhalten. Es wurden so lange immer wieder alle Hinweis- und Ortsschilder abmontiert, bis die Verwaltung es aufgab, neue aufzustellen. Nun kann das "geheime Dorf" nur von Ortskundigen gefunden werden. Das Bild zeigt eine Straßenszene am Labour-Day, irgendwo im Hintergrund bummelt gerade ein Milliardärspärchen durch die Menge. Nur wer von der Gemeinschaft akzeptiert wird und bereit ist, sich anzupassen, darf ein Haus kaufen. Die Gründerin von ESPRIT zum Beispiel wurde akzeptiert, andere wurden gnadenlos weggeekelt. (mi)

Als die Bushregierung verstärkt ihre Absicht erklärte, im Irak Krieg zu führen, bekamen die Friedensinitativen in den Staaten frischen Zulauf, viele wurden neu gegründet. Die Proteste nehmen kein Ende, wie man hier an einer Friedensdemo Ende September `03 im sogenannten Silicon-Valley in Mountain View sieht. (mi)

In einem Café in der Haight-Street trafen wir durch Zufall wieder den Videokünstler Torsten, den wir in Hopland auf dem SolFest (s.o.) kennen gelernt hatten. Zusammen mit seinen Freunden, die allesamt aussahen, als wären sie gerade von den Dreharbeiten zu Hair herüber gekommen fuhren wir zum Golden Gate Park zu einem großen Peace Festival. Tausende an Menschen waren da, um für Frieden zu demonstrieren und zur Lifemusik zu tanzen. Der Refrain des absoluten Sommerhits, der immer überall lief, lautet "We can bomb the world to pieces, but we cannot bomb the world to Peace!" übersetzt etwa: Wir können die Welt in Stücke zerbomben, aber nicht mit Bomben Frieden stiften! (mi)

Wir brauchten nicht von Politik zu sprechen, die Leute kamen von sich aus auf uns zu und sagten "Ich habe Bush nicht gewählt!". Viele Menschen verglichen die aktuellen Vorgänge in den USA mit unserer Hitlerzeit. Sie fühlen sich massiv kontrolliert und manipuliert. Es kursieren Massen an Anti-Bush-Witzen und Kartoons im Internet, die ausgedruckt an Kühlschränke geheftet, in der Wohnung oder auch im Fenster aufgehängt werden. Die Bilder oben und unten machten wir in Seattle und Umgebung. (mi/ma)

Wir sprachen mit vielen Leuten, die innigst hofften, daß Schwarzenegger nicht zum neuen Gouverneur von Californien gewählt wird. Im Fernsehen sahen wir Kampagnen gegen ihn, im Radio hörten wir kritische und warnende Stimmen, in den Straßen sahen wir Plakate wie diese. Es gab viele Proteste. (mi)



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